Mittwoch, 17. März 2010

Das Internet als Meta-Mem und 'Ding an sich'

Wie tiefgreifend das Internet unsere Weltgesellschaft, unsere Politik, Warenwirtschaft, Informationsverbreitung, Bildungsarbeit und Kultur verändert beziehungsweise schon verändert hat, zeigt sich auch daran, dass die Diskussion darüber mittlerweile an allen Stammtischen angekommen ist. Das mag ein Zeichen für den prinzipiellen partizipatorischen Charakter dieses sowohl passiv als auch aktiv nutzbaren Mediums sein, ist aber auch ein Ausdruck der allgemeinen Verunsicherung über die Konsequenzen, die Chancen und Gefahren dieser erweiterten intersubjektiven Kommunikation in einer gemeinsamen öffentlichen Welt. Das Internet ist dabei nicht nur selber schon zu einem Meta-Mem wie die Nutzung des Feuers oder der Dampfmaschine, wie die Meme der kulturellen und religiösen Vorstellungen geworden, sondern erschafft und verbreitet neue Meme in bisher unbekannter Geschwindigkeit und Intensität - kein Keim eines guten oder bösen Gedankens, kein zartes Liebesgedicht und kein dümmlicher Rassistenspruch lässt sich noch durch Quarantänemaßnahmen an der viralen Verbreitung hindern, nicht einmal durch restriktive Zensurversuche.

Die Dialektik dieses Prozesses, ob das Internet denn nun eher ein Medium der Aufklärung und Selbstbestimmung oder der Verblödung und Manipulation sei, polarisiert Skeptiker und Positivisten. Dabei können sich regulierende Gesetzgebung und moralische Reflexion nur bedingt auf kausale und empirisch allgemeingültige Entwicklungen beziehen, weil das Internet im selbstorganisierenden Modus sowohl durch technologische Entwicklungen (KI) als auch durch die funktionale Offenheit kommunikativer Systeme emergente Eigenschaften entwickelt, die sich der deterministischen Vorhersage entziehen.

Also echauffieren sich die Auguren und Kompetenzgaukler der Internetzukunft mit Spekulationen und subjektiven Sollensvorstellungen, und davon schwappen allmonatlich Tausende via Internetmedien ins Netz, was durch den dadurch gegebenen selbstreferenziellen Charakter ein wenig an die Hirnforschung erinnert: "Wenn das Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, wären wir zu einfach, um es zu verstehen.“ (Emerson M. Pugh, 1977).
Etliche derartige Beiträge findet ihr bei entsprechender Stöberlust in diversen Medien-Blogs via unserer "Les-Bar".
Stellvertretend für die Positition der (nur scheinbar rückwärtsgewandten) Skeptiker sei hier nochmal der vieldiskutierte Essay "Payback" von Frank Schirrmacher genannt, als Vertreter der (nur scheinbar avantgardistischen) Internet-Euphoriker hinsichtlich dessen demokratischer Partizipationserweiterung äußert sich Thilo Baum in seinem Lounge-Artikel "Vorsicht, die Demokratie kommt!".

immanuel kantAngenehm distanziert tritt dagegen Björn Haferkamp im Philoblog Für eine Entmythologisierung des Internet ein - und natürlich kann man das Phänomen Internet auch aus einem semi-ironischen philosophischen Blickwinkel betrachten, wie es der Philosoph Markus Gabriel in einem FAZ-Interview dem guten Kant als posthume Gedankenspielerei untergejubelt hat: "Kant hätte im Internet eine komplexe Kopie der gesamten Vernunftstruktur gesehen: Wir haben eine Sinnlichkeit, also Informationsinput, wir haben Verstand, Regeln und wir haben Vernunft - wobei Vernunft in Kants Sinn dem Zusammenhalten verschiedener Informationsquellen entspräche. Sie kommt ins Spiel, wenn ich mich frage: nutze ich Google, oder greife ich zu einem anderen Angebot. Beim Überblicken der Vielfalt des Internets und der Auswahl zwischen unterschiedlichen Optionen, kommt die Vernunft zum Tragen."
Dabei entspräche das Internet dem „Ding an sich“ aus Kants Erkenntnistheorie, weil es anonym, unerkennbar und unüberschaubar sei, obwohl wir annehmen dürfen, dass im Hintergrund ideologische Kräfte walten.

Ich finde es höchst interessant zu beobachten, was die Nutzung des Internets mit unserem Denken und mit geistig-kulturellen Bewegungen in der Gesellschaft macht; indem die Privatsphäre des Denkens (wozu ich auch noch den Stammtisch zählen möchte) sich zunehmend davon entfernt, ein abgeschottetes Reservat zu bilden, weil fast jede Erkenntnis, die es aus einer Aussenwelt bezieht oder an diese liefert, heute schon mehr aus einem gemeinschaftlich frei nutzbaren Ideenpool stammt als aus der von individuellen Lebensumständen geprägten subjektiven und oft nur Wenigen zugänglichen Wissensauswahl. Die Kontingenz des Aufgenommen und damit der Pluralismus an Meinungen nimmt zwar allein durch die verfügbare Quantität noch zu, doch gleichzeitig ist diese Öffentlichkeit auch das Überlebenselixier für 'krude' Ideen (wie diese), die man vielleicht wie die Giftkröten im Amazonas-Dschungel eines Tages noch brauchen kann ;-)

In seinem Essay "Der Mythos vom Subjektiven" nimmt Donald Davidson diese (mögliche) Entwicklung von Memen im Internet vorweg: " Es ist nicht nur so, dass andere in Erfahrung bringen können, was wir denken, indem sie auf die kausalen Abhängigkeiten achten, die unseren Gedanken ihren Inhalt verleihen, sondern die bloße Möglichkeit von Gedanken verlangt gemeinsame Maßstäbe der Wahrheit und Objektivität."
Da darf dann auch der hegelianische Metaphysiker drauf hoffen, dass bei der Gelegenheit doch wieder mal der Weltgeist an den Stellschrauben zu einem bisher unerhörten Niveau menschlicher Geistestätigkeit mitwerkle ;-)


Nachtrag:
Hierzu passt auch ganz gut, wie Stefan Münker über "Das Netz denkt nicht" bei Carta spekuliert...

Essay als PDF




wf